Neue MDR-Übergangsfristen

„Second Amendment“ in Kraft getreten – Neue Übergangsfristen für (bestimmte) Medizinprodukte unter der Verordnung (EU) 2017/745 (MDR)

Angesichts der strukturell zu geringen Kapazitäten bei den Benannten Stellen werden die Übergangsfristen der MDR nochmals nachgesteuert und bis höchstens Ende 2028 gestreckt.

Die Änderungs-Verordnung (EU) 2023/607 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2023 zur Änderung der Verordnungen (EU) 2017/745 und (EU) 2017/746 hinsichtlich der Übergangsbestimmungen für bestimmte Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika (2. Amendment) ist mit ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union am 20.03.2023 in Kraft getreten. Die Änderungs-Verordnung ist eine – um im medizinischen Bild zu bleiben – legislative Notoperation am europäischen Rechtsrahmen, um längst absehbare Versorgungsengpässe im Gesundheitswesen mit wichtigen Medizinprodukten noch abzufedern. Für die Unternehmenspraxis bedeutet dieses 2. Amendment: Hersteller von „Legacy-Produkten“ mit „Alt-“Bescheinigungen unter den Richtlinien 90/385/EWG („AIMDD“) und 93/42 EWG („MDD“) der Klassen Is, Im, IIa, IIb und III sowie solcher Produkte, die unter der MDR höherklassifiziert werden (neue Klasse Ir, regelmäßig auch medizinische Software!), müssen ihre Marktzugangsstrategie prüfen und gegebenenfalls an die neuen Fristen anpassen. Dabei sind eine Reihe von Voraussetzungen zu beachten, um tatsächlich von den verlängerten Übergangsfristen profitieren zu können. Und, um es gleich zu vorwegzunehmen: „Reine“ Klasse I-Produkte, die unter der MDR auch nicht höherklassifiziert werden, sind von den nunmehr verlängerten Übergangsfristen nicht betroffen. Diese müssen auch weiterhin seit dem 26.05.2021 bei Inverkehrbringen MDR-konform sein.

In diesem Blogbeitrag erläutern wir Hintergründe und Auswirkungen der geänderten Übergangsbestimmungen für Medizinprodukte. Für die Praxis bedeutsam sind dabei auch die Querbezüge zu möglichen Duldungskonstruktionen im Rahmen der Marktüberwachung nach Art. 97 MDR.

A. Hintergrund

Die Medizinprodukte-Verordnung (EU) 2017/745 („MDR“) gilt seit dem 26.05.2021. Nach der bisher geltenden Fassung des Art. 120 Abs. 2 MDR würden die „Alt“-Bescheinigungen gemäß den AIMDD/MDD-Richtlinien spätestens am 27.05.2024 ungültig. Die betroffenen sogenannten Legacy-Devices, die noch den Anforderungen des bisherigen Richtlinienrechts entsprechen, dürften gemäß Art. 120 Abs. 3 MDR spätestens dann nicht mehr in Verkehr gebracht werden. Auswertungen der Europäischen Kommission zufolge würden unter diesen Umständen allein zwischen Januar 2023 und Mai 2024 über 21.000 Alt-Bescheinigungen unter dem bisherigen Richtlinienrecht ungültig. Zahlreiche Hersteller scheitern bei Ihren Bemühungen um die rechtzeitige Ausstellung neuer Bescheinigungen nach MDR an den bereits rechnerisch zu geringen Kapazitäten der Benannten Stellen.

Um Remedur zu schaffen, hat die Europäische Kommission vor diesem Hintergrund am 06.01.2023 einen Vorschlag für eine weitere Verlängerung der Übergangsfristen der MDR vorgelegt. Das unmittelbar drohende Risiko erheblicher Engpässe bei Medizinprodukten und damit einer Unterversorgung im Bereich der öffentlichen Gesundheit ergeben, waren Anlass genug, dass sowohl das Europäische Parlament als auch der Rat der Europäischen Union den Verordnungsvorschlag im Eilverfahren unverändert angenommen haben.

B. Wesentlicher Regelungsinhalt

Mit der Änderungs-Verordnung (EU) 2023/607 (Erwägungsgrund (5)) soll angesichts der Berichte von Angehörigen der Gesundheitsberufe über unmittelbar drohende Engpässe bei Medizinprodukten die Gültigkeit der gemäß AIMDD und MDD ausgestellten Bescheinigungen und damit zugleich der Übergangszeitraum verlängert werden, in dem Produkte, die diesen Richtlinien entsprechen, rechtmäßig in Verkehr gebracht werden können. Ziel der Verlängerung ist es, ein hohes Maß an Schutz der öffentlichen Gesundheit zu gewährleisten, einschließlich der Patientensicherheit und der Vermeidung von Engpässen bei Medizinprodukten, die für das reibungslose Funktionieren der Gesundheitsdienste erforderlich sind, ohne die derzeitigen Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen zu senken. Um das genannte Ziel zu erreichen, wurden die Übergangsvorschriften namentlich in Art. 120 Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4 sowie in Art. 122 und 123 der MDR deutlich geändert.

Im Einzelnen ergeben sich daraus folgende wichtige Änderungen.

I. Verlängerung der Gültigkeit von Bescheinigungen – Änderung des Art. 120 Abs. 2 UAbs. 2 MDR

Die Verlängerung der Gültigkeit von Bescheinigungen nach Art. 120 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 MDR trifft „Legacy Devices“ (dazu unter 1.) und Produkte mit bereits abgelaufener Bescheinigung (dazu unter 2.) gleichermaßen.

1. „Legacy Devices“

Gemäß der neuen Fassung des Art. 120 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 1 MDR sollen Bescheinigungen, die von Benannten Stellen

  • ab dem 25.05.2017 gemäß den Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG ausgestellt wurden,
  • die am 26.05.2021 noch gültig waren und
  • die anschließend nicht zurückgezogen wurden,

ihre Gültigkeit nach dem Ende des auf der Bescheinigung angegebenen Zeitraums bis zu dem Datum behalten, das in der Änderungs-Verordnung mit der Einführung des Absatzes 3a für die jeweilige Risikoklasse der Produkte festgelegt ist.

Diese Vorschrift adressiert damit sog. Legacy Devices, die gemäß der alten Fassung des Art. 120 Abs. 3 MDR unter bestimmten Voraussetzungen noch nach den Anforderungen des alten Richtlinienrechts bis spätestens zum 26.05.2024 hätten in Verkehr gebracht werden dürfen.

2. Produkte mit bereits abgelaufener Bescheinigung

Nach Satz 2 des geänderten Art. 120 Abs. 2 UAbs. 2 MDR soll der verlängerte Gültigkeitszeitraum darüber hinaus auch für Bescheinigungen gelten, die

  • von Benannten Stellen im Einklang mit den genannten Richtlinien ab dem 25.05.2017 ausgestellt wurden,
  • am 26.05.2021 noch gültig waren und
  • vor dem 20.03.2023 abgelaufen sind.

Die Geltung des verlängerten Gültigkeitszeitraums ist allerdings an die Bedingung geknüpft, dass der Hersteller und eine Benannte Stelle vor Ablauf der Bescheinigung eine schriftliche Vereinbarung über die Konformitätsbewertung des Produkts unterzeichnet haben, für das die abgelaufene Bescheinigung gilt, oder eines Produkts, das dazu bestimmt ist, dieses Produkt zu ersetzen. Die geforderte schriftliche Vereinbarung soll dabei nach Maßgabe des Anhangs VII Abschnitt 4.3 UAbs. 2 MDR erfolgen, wonach der Vertrag eindeutige Geschäftsbedingungen festlegen und Verpflichtungen enthalten soll, die es der Benannten Stelle ermöglichen, gemäß den Anforderungen dieser Verordnung zu handeln.

Alternativ gelten die neuen Übergangsfristen für Produkte mit bereits abgelaufener Bescheinigung auch für den Fall, dass kein solcher Vertrag unterzeichnet wurde, wenn eine zuständige Behörde eines Mitgliedstaats eine Ausnahme von dem anwendbaren Konformitätsbewertungsverfahren gemäß Art. 59 Abs. 1 MDR gewährt oder den Hersteller gemäß Art. 97 Abs. 1 MDR aufgefordert hat, das anzuwendende Konformitätsbewertungsverfahren durchzuführen. In der Praxis dürfte vor allem letztere Alternative relevant sein, da Sonderzulassungen nach Art. 59 MDR nur unter der sehr engen Bedingung, dass dringender medizinischer Bedarf nicht anderweitig gedeckt und aus Sicht des Gesundheitsschutzes der Abschluss eines regulären Konformitätsbewertungsverfahrens nicht abgewartet werden kann, gewährt werden.

II. Neue Übergangsfristen – Änderung des Art. 120 Abs. 3 MDR

Inhaltlich wurden die genannten Übergangsfristen wie geplant je nach Risikoklasse der Produkte gestaffelt, d.h. bis Dezember 2027 für Produkte mit höherem Risiko und bis Dezember 2028 für Produkte mit mittlerem und geringerem Risiko. Mit diesem risikobasierten Ansatz verfolgt der Unionsgesetzgeber das Ziel, einen Kompromiss zwischen der verfügbaren Kapazität der Benannten Stellen und dem Vorsorgegrad der Hersteller einerseits und einem hohen Schutzniveau für die öffentliche Gesundheit andererseits zu schaffen.

Im Einzelnen sieht die Änderungs-Verordnung nach Art. 120 Abs. 3a und 3b MDR Folgendes vor:

  • Die Gültigkeit der Zertifikate für alle Klasse-III-Produkte und für implantierbare Produkte der Klasse IIb mit Ausnahme von Nahtmaterial, Klammern, Zahnfüllungen, Zahnspangen, Zahnkronen, Schrauben, Keilen, Zahn- bzw. Knochenplatten, Drähten, Stiften, Klemmen und Verbindungsstücken, wird um drei Jahre verlängert und soll mithin bis zum 31.12.2027 gelten.
  • Für die übrigen Klasse IIb-Produkte, Klasse IIa-Produkte sowie für Produkte der Klasse I, die in sterilem Zustand in Verkehr gebracht werden (Klasse Is) oder mit Messfunktion (Klasse Im), soll eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2028 gelten.
  • Die bis zum 31.12.2028 verlängerte Übergangsfrist soll zudem allen unter der MDR höherklassifizierten Produkten zugutekommen, die künftig erstmals eine Benannte Stelle benötigen; betroffen sind in der Praxis insbesondere wiederverwendbare chirurgische Instrumente (Klasse Ir), stoffliche Medizinprodukte und regelmäßig auch medizinische Software.

Die mit der Änderungs-Verordnung festgesetzten Verlängerungen sind unmittelbar anwendbar. Die Benannten Stellen sind folglich nicht verpflichtet, das Datum auf den einzelnen Bescheinigungen zu ändern.

III. Kumulative Bedingungen für die Anwendung des verlängerten Übergangszeitraums – Änderung des Art. 120 Abs. 3 MDR

Allerdings gelten die genannten Übergangsfristen nicht ohne Weiteres. Vielmehr wird die Anwendung des verlängerten Übergangszeitraums nach Erwägungsgrund (6) der Änderungs-Verordnung an bestimmte Bedingungen geknüpft, um sicherzustellen, dass die zusätzliche Zeit nur für Produkte gilt, die sicher sind und für die Hersteller Schritte zum Übergang zur Einhaltung der MDR unternommen haben. Folgende kumulative Bedingungen müssen demnach nach der neuen Fassung des Art. 120 Abs. 3c lit. a–e MDR erfüllt sein, damit Hersteller von den längeren Fristen profitieren können:

  • Die Produkte entsprechen weiterhin der Richtlinie 90/385/EWG bzw. der Richtlinie 93/42/EWG;
  • es liegen keine wesentlichen Veränderungen der Auslegung und der Zweckbestimmung vor;
  • die Produkte stellen kein unannehmbares Risiko für die Gesundheit oder Sicherheit des Patienten, Anwender oder anderer Personen oder für andere Aspekte des Schutzes der öffentlichen Gesundheit dar;
  • der Hersteller hat spätestens am 26.05.2024 ein Qualitätsmanagementsystem gemäß Art. 10 Abs. 9 MDR eingerichtet;
  • der Hersteller oder der Bevollmächtigte hat spätestens am 26.05.2024 bei einer Benannten Stelle einen förmlichen Antrag gemäß Anhang VII Abschnitt 4.3 UAbs. 1 MDR auf Konformitätsbewertung für ein in dem Abs. 3a oder 3b genanntes Produkt oder für ein Produkt, das dazu bestimmt ist, dieses Produkt zu ersetzen, gestellt, und die Benannte Stelle und der Hersteller haben spätestens am 26.09.2024 eine schriftliche Vereinbarung gemäß Anhang VII Abschnitt 4.3 UAbs. 2 MDR unterzeichnet.

Bei näherer Betrachtung dieser Auflistung in Art. 120 Abs. 3c MDR fällt auf, dass sie im Wesentlichen die Voraussetzungen abbildet, die die MDCG in ihrer Leitlinie 2022-18 für die Anwendung des Art. 97 MDR auf Legacy Devices aufgestellt hat. Die Leitlinie adressiert Produkte, für die das AIMDD/MDD-Zertifikat ausläuft, bevor ein MDR-Zertifikat aufgrund von Kapazitätsproblemen bei den Benannten Stellen ausgestellt werden kann bzw. konnte und listet nahezu identische Voraussetzungen auf, um eine sog. Duldungsverfügung erwirken zu können. So ist insbesondere die Bedingung, dass Produkte kein unannehmbares Risiko für die Gesundheit oder Sicherheit darstellen dürfen (Art. 120 Abs. 3c lit. c MDR), wortgleich mit der Formulierung in Art. 97 Abs. 1 MDR.

Als Auslegungshilfen zur neuen Fassung des Art. 120 Abs. 3 lit. c MDR können aufgrund seines Wortlauts sowohl die MDCG-Leitlinie 2022-18 als auch die MDCG-Leitlinie 2020-3 zum Vorliegen von wesentlichen Änderungen der Auslegung und Zweckbestimmung von Medizinprodukten herangezogen werden. Für die letztgenannte Leitlinie wird man zudem eine zeitnahe Revision erwarten dürfen, die womöglich auch zu einer gewissen Aufweitung der Kriterien, wann eine „wesentliche Änderung“ der Auslegung und der Zweckbestimmung eines Produkts anzunehmen ist, führt.

IV. Sonderfall der implantierbaren Sonderanfertigungen der Klasse III

Im Gegensatz zu den AIMDD/MDD-Richtlinien ist nach der MDR die Mitwirkung einer Benannten Stelle an der Konformitätsbewertung von implantierbaren Sonderanfertigungen der Klasse III vorgeschrieben. Damit müssen Hersteller von implantierbaren Sonderanfertigungen der Klasse III seit dem 26.05.2021 alle geltenden Anforderungen der MDR erfüllen. Vor diesem Hintergrund sieht das 2. Amendment für derartige Produkte eine Sonderregelung vor, die den betroffenen Herstellern mehr Zeit einräumt, um die Zertifizierung durch eine Benannte Stelle zu erhalten.

Daher können diese nach der neuen Fassung des Art. 120 Abs. 3 lit. f MDR auch ohne eine Bescheinigung bis zum 26.05.2026 in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen werden, sofern der Hersteller oder sein Bevollmächtigter spätestens am 26.05.2024 bei einer Benannten Stelle einen förmlichen Antrag auf Durchführung einer Konformitätsbewertung gemäß Anhang VII Abschnitt 4.3 UAbs. 1 MDR stellt und der Hersteller spätestens am 26.09.2024 eine schriftliche Vereinbarung mit der Benannten Stelle nach Maßgabe des Anhangs VII Abschnitt 4.3 UAbs. 2 MDR unterzeichnet.

V. Streichung der Abverkaufsfrist – Änderung des Art. 120 Abs. 4 MDR

Flankierend zu dem verlängerten Übergangszeitraum ist nach der neuen Fassung des Art. 120 Abs. 4 MDR auch die Abverkaufsfrist, die ursprünglich bis zum 27.05.2025 vorgesehen war – wie von der Europäischen Kommission vorgeschlagen – ersatzlos gestrichen worden. Dadurch soll eine unnötige Entsorgung sicherer Medizinprodukte verhindert werden, die sich bereits auf dem Markt, aber noch nicht beim Endanwender befindet. Um einen Gleichlauf zu erreichen, sieht Art. 2 der Änderungs-Verordnung an dieser Stelle auch die Streichung der Abverkaufsfrist in Art. 110 Abs. 4 der Verordnung über In-vitro-Diagnostika (EU) 2017/746 vor.

Dies bedeutet für die Praxis, namentlich für Händler, eine deutliche Erleichterung: „Alt“-Produkte, die entweder bereits vor dem 26.05.2021 oder aber als Legacy-Devices unter den neuen Übergangsvorschriften in Verkehr gebracht worden sind, dürfen nunmehr in der Lieferkette ohne zeitliche Begrenzung – vorbehaltlich natürlich des vom Hersteller vorgegebenen „Shelf-Lifes“ – weiter am Markt bereitgestellt und in Betrieb genommen werden. Diese Neuerung gilt im Übrigen auch für Klasse I-Produkte, die noch vor dem 26.05.2021 in Verkehr gebracht worden sind und sich noch in der Lieferkette befinden.

C. Verhältnis der neuen Übergangsfristen zur Duldungsverfügung nach Art. 97 MDR

Bisher gab es für Hersteller die Möglichkeit, ein Produkt auch ohne MDR-Zertifizierung auf dem europäischen Markt zu belassen, indem sie eine Duldungsverfügung nach Art. 97 MDR erwirken konnten. Im vergangenen Dezember veröffentlichte die MDCG – wie bereits erwähnt – ihr Positionspapier MDCG 2022-18, in dem ein einheitliches Vorgehen der zuständigen Behörden bei der Anwendung von Marktüberwachungsmaßnahmen dargelegt wird, um die Lücke zwischen dem Ablaufen der Bescheinigungen gemäß den AIMDD/MDD-Richtlinien und der Ausstellung von Bescheinigungen gemäß der MDR zu überbrücken. Dieser Ansatz sollte nach der MDCG sowie der Europäischen Kommission jedoch nur eine befristete Maßnahme sein.

Mit der Einführung des neuen Übergangszeitraums stellt sich daher die Frage, ob und wenn ja, wie der bisherige Lösungsansatz zur Überbrückung der Engpässe auf dem Medizinproduktemarkt weiter angewendet wird.

I. Legacy Devices

Das Verhältnis der neuen Übergangsfristen für Legacy Devices zu der Duldungsverfügung nach Art. 97 MDR ist – auch nach Ansicht der EU-Kommission – eindeutig: Mit Inkrafttreten der neuen Übergangsfristen werden etwaige Anträge nach Art. 97 MDR für Legacy Devices zur Überbrückung der Lücke zwischen dem Ablaufen der Bescheinigungen gemäß der alten Richtlinie 90/385/EWG sowie der Richtlinie 93/42/EWG und der Ausstellung von Bescheinigungen gemäß der MDR künftig obsolet werden.

II. Produkte mit bereits abgelaufener Bescheinigung

Schwieriger lässt sich das Verhältnis der neuen Übergangsfristen zur Duldungsverfügung nach Art. 97 MDR für Produkte mit bereits abgelaufener Bescheinigung bestimmen. Ein erster Anhaltpunk hierfür bietet die neue Fassung des Art. 120 Abs. 2 UAbs. 2 Alt. 2 MDR, wonach die neuen Übergangsfristen für Produkte mit bereits abgelaufener Bescheinigung gelten, wenn eine zuständige Behörde den Hersteller gemäß Art. 97 Abs. 1 MDR aufgefordert hat, das anzuwendende Konformitätsbewertungsverfahren durchzuführen. Damit ist gemeint, dass der Hersteller die Nichtkonformität mit der Durchführung des einschlägigen Konformitätsbewertungsverfahrens bis zu einem von der Behörde im Rahmen seines Ermessens festgelegten Zeitpunkts beseitigt haben muss.

Allerdings ist hierbei das Zusammenspiel nicht klar, insbesondere für die Fälle, in denen die durch die Behörde für die Beseitigung der Nichtkonformität gesetzte Frist zu einem früheren Zeitpunkt als die in dem Einzelfall geltende neue Übergangsfrist abläuft. Denn es bleibt hierbei weitgehend offen, ob der Hersteller in dieser Konstellation die Nichtkonformität bis zum Ablauf der für ihn geltenden verlängerten Übergangsfristen beseitigen kann oder ob vielmehr die behördlich gesetzte Frist maßgeblich ist.

Konsequenterweise müsste die nach Art. 97 Abs. 1 MDR zuständige Behörde die Frist für die Beseitigung der Nichtkonformität im Lichte der neuen Übergangsfristen festzusetzen, damit ein Gleichlauf hergestellt werden kann. Dafür spricht auch, dass Art. 120 Abs. 3c MDR identische Voraussetzungen wie die MDCG-Leitlinie zur Anwendung des Art. 97 MDR auf Legacy Devices enthält.

Schließlich stellt sich auch die Frage, wer in diesen Fällen für die Überwachung des Produkts verantwortlich ist. Nach Art. 120 Abs. 3e MDR ist es nach wie vor diejenige Benannte Stelle, die auch die Alt-Bescheinigung ausgestellt hat, sobald die verlängerten Übergangsfristen für das betroffene Produkt gelten, während diese Aufgabe die zuständige Behörde nach Art. 97 Abs. 1 MDR bei Produkten mit abgelaufenen Bescheinigungen ab Kenntnisnahme der Nichtkonformität wahrnimmt. Auch hier müsste im Sinne einer konsistenten Handhabung weiterhin die Benannte Stelle für die Überwachung verantwortlich sein, sobald die Voraussetzungen des Art. 120 Abs. 2 UAbs. 2 MDR erfüllt sind.

D. Verbleibende Rechtsunsicherheiten und begleitende Dokumente zur Änderungs-Verordnung

Um den genannten und künftig aufkommenden Rechtsunsicherheiten und Inkonsistenzen vorzubeugen, wird man zur Änderungs-Verordnung zeitnah die Veröffentlichung eines Q&A-Dokuments auf europäischer Ebene erwarten dürfen. Wünschenswert wäre, wenn in diesem Dokument neben dem Verhältnis der Übergangsfristen zu Art. 97 MDR auch Hinweise auf das geplante Prioritätsverhältnis zwischen den im selben Zeitraum auslaufenden MDR-Bescheinigungen und den Alt-Bescheinigungen, deren Gültigkeit verlängert wird, dargelegt werden. Klar ist jedenfalls schon jetzt, dass es zu einer zeitlichen Überschneidung der neuen Übergangsfristen und dem Ablaufdatum von MDR-zertifizierten Medizinprodukten aus dem Jahr 2021 kommen wird – zumal die Bearbeitungszeit pro MDR-Zertifikat nach Angaben der Europäischen Kommission in keinem Fall unter einem Jahr liegt.

Rechtsunsicherheiten bestehen auch in Bezug auf die Ausgestaltung des Vertrags zwischen Hersteller und Benannter Stelle nach Maßgabe des Anhangs VII Abschnitt 4.3 UAbs. 2 MDR. Fest steht, dass Hersteller für die Vereinbarung einen zeitlichen Vorlauf einplanen müssen, da ein nachträglicher Vertragsschluss nicht ausreicht, um von den neuen Übergangsfristen zu profitieren. Allerdings bleibt unklar, in welchem Umfang die Zusage der Benannten Stellen vorliegen muss und wie diese im Einzelnen ausgestaltet wird.

Zudem dürfte im Zuge der Änderungs-Verordnung, wie erwähnt, auch eine Revision der Leitlinie der MDCG 2020-3 zu erwarten sein. Unter Umständen könnte die MDCG dahingehend eine Korrektur vornehmen, dass Hersteller ihre Medizinprodukte bei bestimmten Änderungen der Auslegung und Zweckbestimmung nicht mehr länger technisch einfrieren müssen, um in den Genuss der verlängerten Übergangszeiträume zu kommen. Hierdurch könnten Produkte, die auch im Feld stetig weiterentwickelt und optimiert werden müssen, weiterhin in Verkehr gebracht werden. Diese Korrektur würde jedenfalls dem übergeordneten Ziel der MDR, innovationsfördernd zu wirken (Erwägungsgrund (1) der MDR), Rechnung tragen und Herstellern ermöglichen, trotz der Übergangszeiträume technische Verbesserungen an ihren Produkten vorzunehmen.

E. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben – Fazit und Ausblick

Mit den neuen Übergangsfristen soll sichergestellt werden, dass Herstellern und Benannte Stellen mehr Zeit zur Verfügung steht, um die Konformitätsbewertungsverfahren für Legacy Devices gemäß der MDR durchzuführen und gleichzeitig Patienten den Zugang zu einem breiten Spektrum von Medizinprodukten aufrechtzuerhalten. Allerdings bekämpft die Verlängerung der Übergangsfristen nur das Symptom, nicht die Ursache selbst. Zu dieser Schlussfolgerung kam auch der Bundesrat in seiner 1031. Sitzung vom 03.03.2023 (Drucksache 27/23), der mit der Änderungs-Verordnung weiterhin bestehende strukturelle Probleme in der Umsetzung der MDR für die Wirtschaftsakteure in der EU sieht.

Trotz der zeitlichen Spielräume, die mit der Verlängerung der Übergangsfristen für die Akteure des Medizinproduktesektors geschaffen werden konnten, ist die Ursache nach wie vor primär darin zu sehen, dass die Gesamtkapazität der für die Konformitätsbewertung zuständigen Benannten Stellen unzureichend ist, um die ihnen obliegenden Aufgaben zu erfüllen.

Für die Zukunft dürfte der Fokus weiterer legislativer Maßnahmen – wie bereits im Positionspapier MDCG 2022-14 der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte ausführlich dargelegt – auf der Verbesserung der Kapazitäten Benannter Stellen liegen. Der Bundesrat sieht eine weitere Lösung darin, Sonderlösungen für Nischen- und Bestandsprodukte nach dem Vorbild der FDA zu implementieren und die Evaluierung der MDR nach Art. 121 MDR deutlich vor dem 27.05.2027 vorzunehmen, um weiterhin bestehende Schwachpunkte frühzeitig zu erkennen und zu beheben. Im Übrigen bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Hersteller bis zum Ende des neuen Übergangszeitraums ausreichend darauf vorbereitet sein werden, die verschärften Anforderungen der MDR zu erfüllen und hierdurch Engpässe bei der Medizinprodukteversorgung zu verhindern.

Welche neuen Übergangsfristen für Ihr Produkt gelten, können Sie mit unserem Übergangsfristenrechner ganz einfach und mit ein paar Klicks selbst ermitteln.

Haben Sie zu dieser News Fragen oder wollen Sie mit dem Autor über die News diskutieren? Kontaktieren Sie gerne: Dr. Boris Handorn oder Dr. Zeynep Schreitmüller

21. März 2023 Prof. Dr. Boris Handorn