A. Bezugnahme auf die Verordnung (EU) 2019/1020
Zentrales Element der erwarteten Neufassung des „Blue Guide“ (hier abrufbar) stellt die Aufnahme der Verordnung (EU) 2019/1020 dar, welche als EU-Marktüberwachungsverordnung seit dem 16.07.2021 EU-weit das Marktüberwachungsrecht der Verordnung (EG) Nr. 765/2008 (sog. alte Marktüberwachungsverordnung) ersetzt. Gerade der Geltungsbeginn der EU-Marktüberwachungsverordnung Mitte des vergangenen Jahres dürfte die Arbeit am neuen „Blue Guide“ beschleunigt haben, weil seitdem relevante Teile des „Blue Guide“ veraltet waren (siehe insbesondere den Abschnitt 7 über die „Marktüberwachung“). Dies gilt namentlich für den marktüberwachungsrechtlichen Umgang mit dem weiterhin boomenden Online-Handel.
Besonders herausgestellt werden insoweit die folgenden Aspekte:
- Bereitstellung von Informationen und Durchführung von Maßnahmen zur Förderung der Konformität
- Bereitstellung wirksamerer Durchsetzungsinstrumente in Bezug auf Online-Verkäufe
- Verbesserung der Zusammenarbeit: zwischen den EU-Mitgliedstaaten, zwischen Marktüberwachungs- und Zollbehörden und durch ein Unionsnetzwerk für Produktkonformität
Darüber hinaus wird das Verhältnis der Marktüberwachungsverordnung zur Verordnung (EG) Nr. 765/2008 (sog. alte Marktüberwachungsverordnung) und die Anwendung der Lex-specialis-Regel erläutert (Abschnitt 1.2.2). Mit der Umsetzung der Verordnung in nationales Recht hat sich Dr. Gerhard Wiebe in seinem Beitrag zu dem Marktüberwachungsgesetz (MüG) beschäftigt.
Mit der EU-Marktüberwachungsverordnung rückten die Themen Inverkehrbringen und Verkaufs- bzw. Onlineplattformen in den Fokus. Just damit befasst sich nunmehr wenig überraschend auch die neue Fassung des „Blue Guide“. Nach Art. 6 VO (EU) 2019/1020 gilt ein online zum Verkauf angebotenes Produkt dann als bereitgestellt, wenn sich das „Angebot an Endnutzer in der Union“ richtet. Ausreichend ist jede Tätigkeit des Wirtschaftsakteurs, die in irgendeiner Art und Weise auf einen Mitgliedstaat gerichtet ist. Für die Beurteilung im Einzelfall schlägt die Kommission nach wie vor eine Reihe von Kriterien vor, unter anderem Versandregionen, Sprachen & Bezahlmöglichkeiten auf der Website. Klargestellt wird nun, dass die bloße Zugänglichkeit der Website der Wirtschaftsakteure oder der Vermittler in den EU-Mitgliedstaaten, in den der Endnutzer ansässig oder niedergelassen ist, als Kriterium noch nicht ausreicht. Die physische Lieferung eines bei einem bestimmten Online-Verkäufers mit Sitz außerhalb der EU bestellten Produkts an Endnutzer in der EU soll eine unwiderlegbare Bestätigung dafür sein, dass ein Produkt auf dem EU-Markt in Verkehr gebracht wird (vgl. zum Ganzen Abschnitt 2.4).
An das Inverkehrbringen über Onlineplattformen sind in der Folge weitergehende Rechtsfolgen geknüpft, die über die Verpflichtung der Plattform, mit den Marktüberwachungsbehörden zusammenzuarbeiten, hinausgehen. Daneben wird empfohlen, CE- und andere erforderlichen Kennzeichnungen auf der Website sichtbar hervorzuheben, bevor der Endnutzer den Kauf durchführt.
Endnutzer ist nach Art. 3 Nr. 21 VO (EU) 2019/1020 „jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder Niederlassung in der Union, der ein Produkt entweder als Verbraucher außerhalb seiner gewerblichen, geschäftlichen, handwerklichen oder beruflichen Tätigkeit oder als beruflicher Endnutzer im Rahmen seiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit bereitgestellt wird.“ Die Harmonisierungsrechtsvorschriften sehen für die in den Anwendungsbereich der Endnutzer fallenden Produkte keine Verpflichtungen vor. Umgekehrt können Produkte, die im Zusammenhang mit einer beruflichen Tätigkeit des Endnutzers stehen, Rechtsvorschriften über die Sicherheit am Arbeitsplatz unterfallen.
Der Begriff des (EU-)Wirtschaftsakteurs erfährt in Art. 3 Nr. 13, Art. 4 VO (EU) 2019/1020 eine rechtliche Aufwertung. Wirtschaftsakteure sind „Hersteller, Bevollmächtigte, Einführer, Händler, Fulfilment-Dienstleister oder jede andere natürliche oder juristische Person“, die vergleichbaren Verpflichtungen unterliegt. Nach Art. 4 VO (EU) 2019/1020 dürfen bestimmte Produkte in der EU nur dann in den Verkehr gebracht werden, wenn es dezidiert einen in der EU ansässigen Wirtschaftsakteur gibt, der auf Verlangen der Behörden diesen Informationen übermitteln oder bestimmte Maßnahmen ergreifen kann.
In Abhängigkeit von Verpflichtungen im Rahmen der einschlägigen Harmonisierungsvorschriften kann der Wirtschaftsakteur daneben eine Reihe weiterer Aufgaben wahrzunehmen haben:
- Überprüfung/Aufbewahrung von EU-Konformitätsbescheinigung und technischen Unterlagen
- Verpflichtungen im Fall einer möglichen Gefahr, die von einem Produkt ausgeht (Informieren der zuständigen Marktüberwachungsbehörden, Ergreifen von Korrekturmaßnahmen)
- Zusammenarbeit mit den Marktüberwachungsbehörden (Vorlage der EU-Konformitätserklärung/technischer Unterlagen, bei Korrekturmaßnahmen, in Fällen von Produktrückrufen)
Die Verantwortung dafür, dass das Produkt den Anforderungen der Harmonisierungsrechtsvorschriften entspricht, verbleibt freilich auch in diesem neuen Szenario mit dem Erfordernis des EU-Wirtschaftsakteurs beim Hersteller. Dieser trägt – zusammen mit den anderen Akteuren in der Lieferkette – weiterhin die Verantwortung für alle rechtlichen Verpflichtungen im Hinblick auf die Produkte, Gewährleistungen oder Haftung für fehlerhafte Produkte (vgl. Abschnitt 3.6).
Mit einem eigenen Abschnitt wird der Fulfilment-Dienstleister als selbstständiger Wirtschaftsakteur gewürdigt, indem auf seine Rolle entsprechend des Art. 3 Nr. 11 VO (EU) 2019/1020 eingegangen wird. Der Fulfilment-Dienstleister ist „jede natürliche oder juristische Person, die im Rahmen einer Geschäftstätigkeit mindestens zwei der folgenden Dienstleistungen anbietet: Lagerhaltung, Verpackung, Adressierung und Versand von Produkten, an denen sie kein Eigentumsrecht hat“. Ausdrücklich ausgenommen sind Post- und Paketdienste. Im Rahmen der näheren Untersuchung der Tätigkeit eines Fulfilment-Dienstleisters kann sich dabei je nach Art und Umfang der Tätigkeit ergeben, „dass es sich bei ihnen um Händler, Einführer oder Bevollmächtigte handelt“ (vgl. Abschnitt 3.5).
B. Wesentliche Änderung an Produkten
Ergänzt wurde die Neufassung um konkretisierende Ausführungen zu wesentlichen Änderungen an Produkten. Bisweilen war unklar, wann eine Änderung an einem Produkt als „wesentlich“ einzustufen ist und das Produkt damit als „neu“ gilt. Nunmehr soll ein Produkt unter den folgenden kumulativen Voraussetzungen wesentlich verändert werden, sodass derjenige, der die Änderung vornimmt, Hersteller eines neuen Produkts wird:
- Wenn seine ursprüngliche Leistung, Verwendung oder Bauart geändert wurde, ohne dass dies bei der ursprünglichen Risikobewertung vorgesehen war.
- Wenn sich die Art der Gefahr geändert oder das Risikoniveau im Vergleich zu den einschlägigen Harmonisierungsrechtsvorschriften der Union erhöht hat.
- Wenn das Produkt zur Verfügung gestellt wird (oder in Betrieb genommen wird, wenn die Inbetriebnahme – wie z.B. im Maschinenrecht – ebenfalls in den Anwendungsbereich der geltenden Rechtsvorschriften fällt).
Neu ist damit vor allem die Bezugnahme auf die ursprüngliche Risikobewertung. Diese darf die betreffende Modifikation gerade noch nicht vorab berücksichtigt haben. Auch wenn dies im „Blue Guide“ 2016 so klar nicht zum Ausdruck kam, musste es richtigerweise schon Geltung beanspruchen; denn ob sich das Risiko änderte oder erhöhte, sollte im Wege einer Risikobewertung untersucht werden. In diesem Zuge war naturgemäß auch die ursprüngliche Risikobewertung heranzuziehen. Letztlich handelt es sich diesbezüglich also mehr um eine Klarstellung.
Diese Überlegungen sollen im Übrigen auch für Software (Datenverarbeitungsprogramme) gelten, d.h. mit Blick auf die Abgrenzung zwischen bloßer Instandhaltung einerseits und wesentlicher Veränderung andererseits (vgl. zum Ganzen Abschnitt 2.1).
C. Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU
In den Abschnitten 2.9.5 und 2.9.6 werden die produktrechtlichen Konsequenzen des „Brexits“ angerissen. Nachdem die Harmonisierungsrechtsvorschriften seit dem 01.01.2021 nicht mehr für das Vereinigte Königreich gelten, werden aus ehemaligen EU-Händlern nunmehr Einführer im Sinne des europäischen Produktsicherheitsrechts. Sie müssen in der Folge die entsprechend strengeren Verpflichtungen erfüllen. Darüber hinaus werden weitere Folgen in Bezug auf Wirtschaftsakteure, notifizierte- und Akkreditierungsstellen sowie Konformitätsbewertungsverfahren erläutert. Abschließend werden die produktrechtlichen Auswirkungen des Protokolls zu Irland/Nordirland beschrieben.
D. Verordnung (EU) 2019/515 über die gegenseitige Anerkennung von Waren
Neu mit aufgenommen wurde die Verordnung (EU) 2019/515 über die gegenseitige Anerkennung von Waren, welche seit dem 19.04.2020 gilt und die zum New Legislative Framework (NLF) zählende Verordnung (EG) Nr. 764/2008 ersetzte. Ziel der Verordnung ist es, die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern. Die wesentliche Neuerung gegenüber der alten Verordnung stellt vor allem die sog. freiwillige Selbsterklärung zur gegenseitigen Anerkennung eines Wirtschaftsakteurs dar. Für weitere Informationen sei an dieser Stelle auf den einschlägigen Leitfaden der Kommission verwiesen (vgl. zum Ganzen Abschnitt 1.1.2).
E. Aus Drittländern eingeführte Produkte
Schließlich erörtert die Kommission die Vorschriften über Produkte, die aus Drittländern in die EU eingeführt werden. Auch Produkte mit Ursprung in Ländern außerhalb der EU müssen den geltenden Harmonisierungsanforderungen entsprechen, wenn sie auf dem Unionsmarkt bereitgestellt werden. Erst, wenn sie den Harmonisierungsvorschriften entsprechen, dürfen die Produkte in den zollrechtlich freien Verkehr überführt werden (vgl. zum Ganzen Abschnitt 2.5).
F. Fazit
Über seine bestehende produktrechtliche Relevanz hinaus wird der „Blue Guide“ in seiner Neufassung nun auch zu einer wichtigen Referenz für die Verordnung (EU) 2019/1020. Wünschenswert wäre jedoch eine Klarstellung umstrittener Rechtsauffassungen der Vorauflage gewesen, etwa mit Blick auf den Umgang mit Ersatzteilen (vgl. Abschnitt 2.1).
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