A. Digitale Schuldrechtsreform
Zum 01.01.2022 sind die größten Änderungen im BGB seit der Schuldrechtsreform Anfang 2002 in Kraft getreten. Grund dafür ist die Umsetzung von zwei europäischen Richtlinien, genauer der Richtlinie (EU) 2019/770 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte der Bereitstellung digitaler Inhalte und digitaler Dienstleistungen und der Richtlinie (EU) 2019/771 über bestimmte vertragsrechtliche Aspekte des Warenkaufs. Da beide Richtlinien den Ansatz der Vollharmonisierung verfolgen, wird nach ihrer entsprechenden Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten EU-weit weitgehend ein einheitlicher Rechtsrahmen bestehen. Aufgrund der zahlreichen und weitreichenden Neuerungen für digitale Komponenten kann man hier mit Fug und Recht von einer digitalen Schuldrechtsreform sprechen.
Für Verbraucherverträge über digitale Produkte, worunter die Bereitstellung digitaler Inhalte oder digitaler Dienstleistungen zu verstehen ist, wurde in den §§ 327-327u BGB ein ganzer neuer Abschnitt geschaffen. Unter digitalen Inhalten sind Daten zu verstehen, die in digitaler Form erstellt und bereitgestellt werden. Digitale Dienstleistungen sind solche, die dem Verbraucher die Erstellung, Verarbeitung oder Speicherung von Daten oder den Zugang zu diesen ermöglichen oder die gemeinsame Nutzung der vom Verbraucher oder anderen Nutzern hochgeladenen Daten (oder sonstige Interaktionen mit diesen) ermöglichen.
Der Anwendungsbereich der neuen Regeln ist breit: Zu digitalen Inhalten gehören etwa Software einschließlich Apps für Mobilgeräte, Video- und Audiodateien einschließlich Musik sowie elektronische Spiele. Digitale Dienstleistungen sind etwa Cloud-Services, das Hosting von Dateien, Social-Media-Plattformen und Messenger-Dienste wie WhatsApp oder Threema.
Die Verankerung der neuen Vorschriften im allgemeinen Teil des Schuldrechts zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht um einen neuen Vertragstyp, sondern um typenübergreifende Regelungen handelt, die bei zahlreichen Vertragstypen eine Rolle spielen werden. Ungewöhnlich ist, dass an dieser Stelle auch ein eigenes Gewährleistungsrecht eingeführt wurde. Spezifisch im Kaufrecht wurden neue Regeln für den Kauf von Waren mit digitalen Elementen aufgestellt, worunter Waren zu verstehen sind, die in einer Weise digitale Produkte enthalten oder mit diesen verbunden sind, dass die Waren ihre Funktionen ohne diese nicht erfüllen können (z.B. Smartphones, PCs, Mähroboter, Navigationssysteme, viele IoT-Komponenten, etc.).
Neu ist schon der grundlegende Sachmangelbegriff selbst. Nach neuem Recht ist eine Ware nur noch frei von Sachmängeln, wenn sie kumulativ (!) den objektiven und subjektiven Anforderungen entspricht; hinzu kommen noch die Erfüllung der Montage- oder Installationsanforderungen bzw. der Anforderungen an die Integration des digitalen Produkts. Das bedeutet, dass der Verkäufer in Zukunft selbst dann objektive Beschaffenheitskomponenten im Blick haben muss, wenn er mit dem Käufer subjektive Absprachen getroffen hat. Zur Warenbeschaffenheit gehören künftig ausdrücklich auch deren Funktionalität, Kompatibilität und Interoperabilität. Dies führt zu einer spürbaren Ausweitung des Mangelbegriffs und damit zu weitergehenden Rechten der Käufer.
Grundlegend neu ist die Pflicht zu Aktualisierungen. Der Unternehmer muss sicherstellen, dass dem Verbraucher Updates einschließlich Sicherheitsupdates, die für den Erhalt der Vertragsmäßigkeit des digitalen Produkts erforderlich sind, bereitgestellt werden. Flankiert wird diese Regelung durch eine entsprechende Informationspflicht gegenüber dem Verbraucher. Das gilt auch im Kaufrecht für Waren mit digitalen Elementen. Eindeutig ist noch die Regelung, dass die Updates bei einer dauerhaften Bereitstellung des digitalen Produkts während des Bereitstellungszeitraums bzw. während des nach dem Kaufvertrag maßgeblichen Zeitraum bereitgestellt werden müssen. Deutlich unklarer sind aber die weiteren Bestimmungen, dass Updates so lange zu erfolgen haben, wie das der Verbraucher nach Art und Zweck des Produkts und aufgrund weiterer Umstände objektiv erwarten kann. Bis diese unbestimmten Rechtsbegriffe durch die Rechtsprechung geklärt sein werden, müssen Unternehmer mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit leben. In dogmatischer Hinsicht darf nicht übersehen werden, dass der Kaufvertrag, der bisher einen einmaligen Leistungsaustausch zum Inhalt hatte, durch die neu eingeführte Updatepflicht insoweit erstmals zu einem Dauerschuldverhältnis wird. Die Folgen dieses Paradigmenwechsels für das Kaufrecht sind noch nicht vollständig absehbar.
Neu ist auch, dass die bloße – aktive oder passive – Bereitstellung personenbezogener Daten durch den Verbraucher eine Gegenleistung sein kann. Sofern diese Daten vom Unternehmer nicht notwendigerweise dafür verwendet werden, seine Leistungspflichten oder rechtliche Anforderungen zu erfüllen, greifen die neuen Vorschriften, was zu einem viel breiteren Anwendungsbereich führt. So sind nicht nur digitale Bezahldienste, sondern auch kostenlose soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und TikTok von den neuen Regeln umfasst, da der Nutzer hier seine personenbezogenen Daten bereitstellt und letztlich mit diesen bezahlt. Gerade an dieser Stelle wird der Verbraucherschutz daher massiv ausgeweitet. Schon begrifflich und erst recht inhaltlich bestehen bezüglich personenbezogener Daten als Währung zahlreiche Berührungspunkte und Überschneidungen mit dem deutschen und vor allem europäischen Datenschutzrecht, was sich auch daran zeigt, dass im neuen Recht versucht wurde, vertragsrechtliche Folgen datenschutzrechtlicher Erklärungen des Verbrauchers zu regeln (§ 327q BGB). Fast schon konservativ erscheint vor diesem Hintergrund, dass auch digitale Darstellungen eines Werts und damit insbesondere Kryptowährungen wie Bitcoin und Ethereum als mögliche Gegenleistung geregelt wurden, § 327 Abs. 1 Satz 2 BGB.
Im neuen Recht können sich gerade Unternehmer auch nicht mehr darauf verlassen, für verkaufte Waren zwei Jahre lang Gewähr leisten zu müssen. So verjähren die Ansprüche des Verbrauchers bei einer dauerhaften Bereitstellung sowie Ansprüche wegen der Verletzung einer Aktualisierungspflicht nicht vor Ablauf von zwölf Monaten nach dem Ende des Bereitstellungs- bzw. Aktualisierungszeitraums. Da dieser Zeitraum naturgemäß deutlich länger als zwei Jahre sein kann, führt schon das ggf. zu einer teils massiven Ausweitung der Gewährleistungsfrist. Doch damit nicht genug: Zeigt sich ein Mangel innerhalb der Verjährungsfrist, tritt Verjährung frühestens vier Monate nach diesem Zeitpunkt ein. Da dieser Termin in der Sphäre des Verbrauchers liegt, dürften Unternehmer in Zukunft häufiger mehr als zwei Jahre nach Vertragsschluss mit solchen Forderungen konfrontiert werden. Gibt der Verbraucher die gekaufte Ware insbesondere zur Nacherfüllung zurück, verjähren seine Gewährleistungsansprüche zudem nicht vor dem Ablauf von zwei Monaten ab der Rückgabe an ihn. Es ist absehbar, dass die neuen Regeln, insbesondere wenn sie kumuliert zur Anwendung kommen, in zahlreichen Fällen zu einer deutlichen Verlängerung der Gewährleistung führen werden.
Zugunsten des Verbrauchers wurde auch der Zeitraum, in dem vermutet wird, dass ein Produkt von Anfang an mangelhaft war, von sechs Monaten auf ein Jahr verdoppelt. Ferner wird bei einer dauerhaften Bereitstellung der digitalen Komponente bei einem auftretenden Mangel vermutet, dass diese schon während der bisherigen Bereitstellung mangelhaft war. Das wirft Fragen auf, etwa wenn ein elektronisches Gerät unmittelbar nach einem Update nicht mehr funktionieren sollte.
Verbraucherfreundlich ist auch die Neuregelung, dass nunmehr selbst die positive Kenntnis des Käufers von einem Mangel im Zeitpunkt des Kaufs nicht mehr zu einem Verlust seiner Gewährleistung führt. Erforderlich ist nunmehr, dass der Verbraucher eigens davon in Kenntnis gesetzt wird, dass ein konkretes Merkmal der Ware von den objektiven Beschaffenheitsanforderungen abweicht und dass die Abweichung als solche noch einmal ausdrücklich und gesondert vereinbart wird. Dies wird Unternehmer insbesondere beim Verkauf von B-Ware, retournierten Produkten, Mängelexemplaren, Waren mit (nahezu) abgelaufenen MHD etc. vor zusätzliche Probleme stellen.
Erwähnenswert sind auch Neuregelungen zu Garantien zugunsten von Verbrauchern. Für diese sind künftig Mindestangaben gesetzlich vorgesehen. Zudem ist dem Verbraucher die Garantieerklärung spätestens zum Zeitpunkt der Lieferung der Ware auf einem dauerhaften Datenträger zur Verfügung zu stellen. Bei einer Haltbarkeitsgarantie gibt es nunmehr sogar einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestinhalt. Dem Verbraucher muss darin zumindest ein Anspruch auf Nacherfüllung eingeräumt werden.
Auch der Regress in der Lieferkette wurde in Teilen neu geregelt. Einen solchen Rückgriff des Unternehmers gegenüber dem eigenen Vertriebspartner gibt es nunmehr auch für digitale Produkte. Neu ist, dass die bisherige Höchstfrist für die Ablaufhemmung von fünf Jahren gestrichen wurde. Im Einzelfall kann daher künftig der eigene Lieferant länger als fünf Jahre in Regress genommen werden.
B. Weitere Änderungen im Zivilrecht
Für Betreiber von Online-Marktplätzen werden ab dem 28.05.2022 neue Informationspflichten geschaffen. Hierzu gehören insbesondere nähere Informationen vor Vertragsschluss zum Ranking der angezeigten Produkte und bei der Anzeige eines Produktvergleichs die Anbieter, die im Rahmen dieses Vergleichs berücksichtigt wurden. Unternehmer müssen auch auf den Umstand hinweisen, wenn der Preis für ein Angebot aufgrund einer automatisierten Entscheidungsfindung, also durch einen Algorithmus, personalisiert wurde (§ 312k BGB in Verbindung mit Art. 246d EGBGB, Art. 246a EGBGB).
Beachtlich ist auch der neue Art. 246e EGBGB, der nicht nur bestimmte Verletzungen von Verbraucherinteressen verbietet, sondern dafür auch im bürgerlichen Recht (!) Bußgeldtatbestände einführt. Voraussetzung ist das Vorliegen eines weitverbreiteten Verstoßes oder eines weitverbreiteten Verstoßes mit Unions-Dimension. Eine solche Verletzung liegt etwa bereits vor bei der Verwendung von AGB, die gegen § 309 BGB (Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit) verstoßen, aber auch bei einem Verstoß gegen die neuen Informationspflichten des § 312k BGB (s.o.). Ausreichend ist auch, dass die Ware an den Verbraucher nicht binnen einer von diesem gesetzten angemessenen Frist geliefert wird oder der Zugang eines Widerrufs vom Unternehmer nicht in der gesetzlich vorgesehenen Weise bestätigt wird. Bußgelder können sich in diesen Fällen auf bis zu EUR 50.000,00 belaufen; bei einem Unternehmer, der in den von dem Verstoß betroffenen Ländern im Vorjahr einen Jahresumsatz von mehr als EUR 1,25 Mio. erzielt hat, kann die Geldbuße sogar bis zu 4 % des Jahresumsatzes betragen. Verstöße gegen verbraucherschützende, rein zivilrechtliche Bestimmungen können daher zukünftig sogar in den Bereich der Ordnungswidrigkeit führen.
Fazit: Das BGB wurde daher an zahlreichen Stellen spürbar verbraucherfreundlicher gestaltet. Neben neuen und erweiterten Rechten ist sogar ein ganzer Katalog von Bußgeldtatbeständen hinzugekommen. Unternehmer müssen sich auf diese neuen „Spielregeln“ einstellen.
C. Änderungen im Wettbewerbsrecht
Im Lauterkeitsrecht ist vor allem auf folgende Gesetzesänderungen hinzuweisen:
Hier ist in erster Linie sicherlich der neue Schadensersatzanspruch nach § 9 Abs. 2 UWG zu nennen. Erstmals können nicht nur Mitbewerber, sondern auch Verbraucher künftig (genauer: ab dem 28.05.2022) Schadensersatz bei bestimmten Wettbewerbsverstößen verlangen. Zudem verjährt dieser Anspruch nicht, wie im Wettbewerbsrecht üblich, nach sechs Monaten, sondern erst nach einem Jahr.
Online-Marktplätze und Vergleichsportale, nicht aber reine Online-Suchmaschinen, werden ab demselben Datum angeben müssen, welche Hauptparameter für das Ranking der angezeigten Ergebnisse eingesetzt werden und deren relative Gewichtung im Vergleich zu anderen Parametern. Macht der Unternehmer Kundenbewertungen zugänglich, gilt zudem als wesentliche Information, ob und wie sichergestellt ist, dass die Bewertungen von Verbrauchern stammen, die die entsprechende Ware bzw. Dienstleistung auch tatsächlich erworben oder genutzt haben. Auch verdeckte Werbung in Suchergebnissen wird künftig ausdrücklich verboten sein, ebenso die Nutzung gefälschter Verbraucherbewertungen.
Neu eingeführt wird auch ein sog. Unlauterkeitstatbestand im Zusammenhang mit der vermehrt diskutierten sog. Dual Quality von Produkten: Es gilt als irreführend, wenn eine Ware so vermarktet wird, als sei sie identisch mit einer in anderen Mitgliedstaaten auf dem Markt bereitgestellten Ware, sich diese aber in ihrer Zusammensetzung wesentlich unterscheidet. Die Unterschiede müssen für den Verbraucher klar erkennbar sein.
Hinzu kommt ein weiterer Bußgeldtatbestand in § 19 n.F. UWG bei Verletzung von Verbraucherinteressen. Voraussetzung ist unlauteres Handeln bei einem weitverbreiteten Verstoß bzw. bei einem weitverbreiteten Verstoß mit Unions-Dimension. Der Bußgeldrahmen beträgt EUR 50.000,00; bei einem Unternehmer, der in den von dem Verstoß betroffenen Ländern einen Jahresumsatz von mehr als EUR 1,25 Mio. erzielt hat, kann die Geldbuße sogar bis zu 4 % des Jahresumsatzes betragen.
Auch im Wettbewerbsrecht steigt damit das Haftungsrisiko für Unternehmen. Hinzu kommen neue Lauterkeitstatbestände und damit generell ein steigendes Risiko von Abmahnungen.
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