A. Neuordnung des europäischen und nationalen Produktsicherheitsrechts
Zunächst gilt der Fokus dem neuen europäischen und nationalen Produktsicherheitsrecht, das seit dem 16.07.2021 in Gestalt der Verordnung (EU) 2019/1020 (sog. EU-Marktüberwachungsverordnung) bzw. dem Gesetz über die Bereitstellung von Produkten auf dem Markt (Produktsicherheitsgesetz – ProdSG) vom 27.07.2021 und dem Gesetz zur Marktüberwachung und zur Sicherstellung der Konformität von Produkten (Marktüberwachungsgesetz – MüG) vom 09.06.2021 in Kraft ist.
Auch wenn die betreffenden Gesetze inzwischen fast sechs Monate gelten, ist davon auszugehen, dass sich erst im Jahr 2022 belastbare Prognosen zur Auslegung einzelner Bestimmungen machen lassen. Dies betrifft etwa die praktisch wichtige Frage nach der Zulässigkeit der digitalen Anleitung oder der Marktüberwachung des Online-Handels mit neuen zeitlich vorverlagerten Pflichten der Wirtschaftsakteure.
Weitere Details sind in unseren Blog-Beiträgen Neues Marktüberwachungsgesetz verabschiedet und Annahme des Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG) durch den Bundestag am 20.05.2021 enthalten.
B. Konkretisierung der Barrierefreiheitsanforderungen
Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 über Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze („BFSG“) vom 16.07.2021 hat der deutsche Gesetzgeber rechtzeitig auf seine europarechtliche Umsetzungspflicht reagiert. Allerdings hat er damit noch nicht sämtliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, die bis zum 28.06.2022 vorhanden sein müssen, um der betreffenden Richtlinie nachzukommen.
Konkret wurden die anwendbaren Barrierefreiheitsanforderungen in diesem Gesetz noch nicht festgelegt. Stattdessen wurde der Verordnungsgeber in § 3 Abs. 2 BFSG ermächtigt, im Wege einer Rechtsverordnung für die erforderlichen Konkretisierungen zu sorgen. Diese müssen sich freilich an den detaillierten Anforderungen im Anhang I der Richtlinie (EU) 2019/882 orientieren, sodass der Spielraum des nationalen Verordnungsgebers nur sehr eingeschränkt ist. Im Anhang I der Richtlinie (EU) 2019/882 gibt es etwa auf Produkte bezogene „Anforderungen an die Bereitstellung von Informationen“ oder Vorgaben zur „Gestaltung von Benutzerschnittstelle und Funktionalität“. Die neuen Barrierefreiheitsanforderungen werden z.B. für PCs, Notebook, Tablets, Mobiltelefone, Fernseher oder E-Book-Lesegeräte gelten. Bemerkenswert ist, dass es sich um einen „CE-Rechtsakt“ handelt, d.h. der Hersteller muss ein Konformitätsbewertungsverfahren durchführen, die CE-Kennzeichnung anbringen und eine EU-Konformitätserklärung ausstellen.
C. Reform der Allgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie
Sodann gilt der Fokus der Reform des allgemeinen Produktsicherheitsrechts auf europäischer Ebene. Ein erster Entwurf einer neuen Produktsicherheitsverordnung (im Folgenden auch „GPSR-E“) liegt bereits vor. Der Vorschlag zielt auf die Regelung der Sicherheit von Non-Food-Verbraucherprodukten ab und soll die Richtlinie 2001/95/EG über die allgemeine Produktsicherheit (sog. Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie) ersetzen. Die EU-Produktsicherheitsverordnung soll damit grundlegende Sicherheitsanforderungen an Verbraucherprodukte, die nicht sektoralen Harmonisierungsrechtsvorschriften unterliegen, und Pflichten der Wirtschaftsakteure festlegen. Ein besonderes Anliegen des Vorschlags besteht in der stärkeren Erfassung des Online-Handels; es soll insofern ein Gleichlauf mit der Verordnung (EU) 2019/1020 (sog. EU-Marktüberwachungsverordnung) erreicht werden. Die Allgemeine Produktsicherheitsrichtlinie bleibt durch die seit dem 16.07.2021 EU-weit geltende EU-Marktüberwachungsverordnung im Übrigen unberührt. Zugleich wird sie im Anhang I der EU-Marktüberwachungsverordnung nicht genannt, sodass die EU-Marktüberwachungsverordnung insoweit keine Anwendung findet. Die EU-Marktüberwachungsverordnung gilt grundsätzlich nur für harmonisierte Produkte, d.h. für Produkte, die einer der in Anhang I der EU-Marktüberwachungsverordnung genannten Harmonierungsrechtsvorschriften unterliegen. Um Kohärenz und Einheitlichkeit der Regelungen für harmonisierte und nicht-harmonisierte Produkte sicherzustellen, knüpft der GPSR-E an eine Reihe von Bestimmungen der EU-Marktüberwachungsverordnung wie z.B. an deren Kapitel IV, V und VI über die Marktüberwachung und die grenzübergreifende Amtshilfe an und erklärt genau bezeichnete Bestimmungen der EU-Marktüberwachungsverordnung für anwendbar. Er nimmt auch den praktisch wichtigen Art. 4 der EU-Marktüberwachungsverordnung in Bezug. Der GPSR-E ändert jedoch nicht die EU-Marktüberwachungsverordnung. Da die Regelungen im Wege einer EU-Verordnung eingeführt werden sollen, würde das ProdSG, das die Richtlinie 2001/95/EG umsetzt, in weiten Teilen obsolet werden.
I. Sachlicher und persönlicher Anwendungsbereich
Die Verordnung soll für neue, gebrauchte, instand gesetzte oder wiederaufgearbeitete Produkte gelten, die auf dem Markt in Verkehr gebracht oder bereitgestellt werden, soweit sie nicht sektoralen Harmonisierungsrechtsvorschriften unterliegen (Art. 2 GPSR-E). Damit erfasst der Vorschlag einen großen Teil des nicht-harmonisierten Produktbereichs, d.h. konkret die nicht CE-gekennzeichneten Produkte wie z.B. zahlreiche Möbel, Textilien oder Sportgeräte. Dem persönlichen Anwendungsbereich unterfallen die Wirtschaftsakteure, zu denen u.a. sowohl stationäre Händler als auch Online-Händler gehören. Wie in der Verordnung (EU) 2019/1020 soll ein Produkt als auf dem Markt bereitgestellt gelten, wenn es online zum Verkauf angeboten wird und sich das Angebot an EU-Verbraucher richtet (Art. 4 GPSR-E).
II. Hersteller betreffende Kernregelungen
Die an die Hersteller gerichteten Pflichten finden sich in Art. 8 GPSR-E. An erster Stelle steht die Pflicht, nur sichere Produkte in den Verkehr zu bringen. Die Sicherheit muss auch im Rahmen der Serienfertigung gewährleistet werden (Art. 8 Abs. 9 GPSR-E). Neu ist die Pflicht, technische Unterlagen über die Produkte zu erstellen und diese aufzubewahren (Art. 8 Abs. 4, 5 GPSR-E). Art. 8 Abs. 6-8 GPSR-E verankert bereits bekannte Kennzeichnungs- und Informationsanforderungen. Eine allgemeine, an alle Wirtschaftsakteure gerichtete Pflicht folgt aus Art. 13 GPSR-E. Danach muss ein unternehmensinternes Verfahren eingerichtet werden, um das allgemeine Sicherheitsgebot nach Art. 5 GPSR-E zu erfüllen, demgemäß nur sichere Produkte bereitgestellt werden dürfen. Damit ist etwa die Implementierung eines Qualitätssicherungs- oder Risikomanagementsystems gemeint. Ferner sind Hersteller zur (passiven) Produktbeobachtung und Etablierung eines Beschwerdemanagementsystems verpflichtet (Art. 8 Abs. 2 GPSR-E). Zudem bestehen weitreichende Unterrichtungs- und Kooperationspflichten (Artt. 14, 19 Abs. 11 GPSR-E). So soll es für Hersteller eine Pflicht zur fortlaufenden Information von Händlern, Importeuren und Online-Marktplätzen über identifizierte Sicherheitsprobleme geben. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass ein Produkt nicht sicher ist, soll ferner künftig (anders als bisher) die Pflicht bestehen, unverzüglich Korrekturmaßnahmen durchzuführen (Art. 8 Abs. 10 GPSR-E). Die bisher schon existierende Mitteilungspflicht gegenüber Behörden (sog. Notifikationspflicht) wird ergänzt um eine entsprechende Pflicht auch gegenüber Verbrauchern, und zwar über das sog. Product Safety Business Alert Gateway (Art. 8 Abs. 11 GPSR-E). Im Verhältnis zu den Verbrauchern ergeben sich weitere Informationspflichten, wenn Rückrufe stattfinden oder Sicherheitswarnungen herausgegeben werden; dabei sind die vorhandenen Kundendaten zu nutzen (Art. 33 GPSR-E). Zusätzlich müssen Hersteller innerhalb von zwei Arbeitstagen nach Kenntniserlangung Marktüberwachungsbehörden über Unfälle informieren, die von einem von ihnen bereitgestellten Produkt verursacht wurden (Art. 19 Abs. 1 GPSR-E). Besondere Informationspflichten im Rahmen von Online-Verkaufsangeboten verankert Art. 18 GPSR-E. Die Angaben beziehen sich auf den Hersteller, die Produktidentifikation und Sicherheitshinweise.
II. Händler betreffende Kernregelungen
Händler tragen ebenso eine Verantwortung zur Gewährleistung der Produktsicherheit (daher müssen auch sie ein unternehmensinternes Verfahren gemäß Art. 13 GPSR-E etablieren). Bei Verdacht der Nichtkonformität darf der Händler ein Produkt nur bereitstellen, wenn die Konformität wieder hergestellt wurde (Art. 11 Abs. 3 GPSR-E). Der Pflichtenumfang ist jedoch im Vergleich zu den Herstellerpflichten geringer. Ein dezidiert die Händler treffender Pflichtenkanon ergibt sich aus Art. 11 GPSR-E. Konkret obliegen den Händlern einerseits formelle Prüfpflichten; sie müssen also prüfen, ob das Produkt die Hersteller- bzw. Einführerkennzeichnung sowie weitere Sicherheitsinformationen aufweist (Art. 11 Abs. 1 GPSR-E). Andererseits müssen sie die Beeinträchtigung der Produktkonformität verhindern, solange sich das Produkt in ihrem Verantwortungsbereich befindet (Art. 11 Abs. 2 GPSR-E). Für den Fall der Nichtkonformität bzw. eines Produktrisikos werden umfangreiche Mitteilungs- und Kooperationspflichten im Verhältnis zu den zuständigen Marktüberwachungsbehörden und Herstellern sowie Einführern verankert (Artt. 11 Abs. 3 f., 14, 19 Abs. 2 GPSR-E). Ebenso gelten für die Händler die Unterrichtungspflichten gegenüber Verbrauchern im Zuge von Feldmaßnahmen nach Art. 33 GPSR-E. Die besonderen Informationspflichten nach Art. 18 GPSR-E im Rahmen des Fernabsatzes treffen auch Online-Händler.
III. Rechte der Verbraucher
Neu und erwähnenswert ist die Regelung des Art. 35 GPSR-E, die den Verbrauchern im Falle eines Rückrufs einen Anspruch auf kostenfreie Abhilfe gegenüber dem verantwortlichen Wirtschaftsakteur verleiht. Neben dem Hersteller kann theoretisch auch der Händler der für den Rückruf verantwortliche Wirtschaftsakteur sein. Dieser Anspruch tritt neben die zivilrechtlichen Gewährleistungsansprüche und die Ansprüche aus Produkt- sowie Produzentenhaftung.
IV. Zeitlicher Horizont
Nach Auskunft der EU-Kommission werde der Entwurf nach wie vor im Rahmen des Trilogs (Rat, EU-Parlament, EU-Kommission) verhandelt. Eine zeitliche Planung gäbe es nicht, sodass nicht absehbar sei, wann die EU-Produktsicherheitsverordnung verabschiedet und in Kraft treten werde. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass das Vorhaben noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird, bis es (wohl in geänderter Fassung) in Kraft tritt.
D. Reformen im sektoralen Produktsicherheitsrecht
Was das sektorale Produktsicherheitsrecht anbelangt, gilt der Fokus im Jahr 2022 den folgenden Rechtsakten:
- Revision der Richtlinie 2006/42/EG (sog. EG-Maschinenrichtlinie)
- Revision der Richtlinie 2009/48/EG (sog. EG-Spielzeugrichtlinie)
- Revision der Verordnung (EU) Nr. 305/2011 (sog. EU-Bauproduktenverordnung)
Insoweit sollten die Aktivitäten auf EU-Ebene aufmerksam verfolgt werden, auch wenn die Verfahren in allen drei Sektoren noch eine gewisse Zeit benötigen dürften.
E. Reform der EU-Funkanlagenrichtlinie
Mit Blick auf den vorgelegten Vorschlag der Kommission aus dem Herbst 2021 zur Verbesserung der Kompatibilität von Funkanlagen mit Zubehör im Allgemeinen und einheitlichen Ladegeräten im Besonderen kann die Prognose gewagt werden, dass an diesem Vorschlag im Jahr 2022 mit Hochdruck weiter gearbeitet wird, zumal damit die Nutzung von Funkanlagen vereinfacht, unnötiger Abfall verringert und ein Beitrag zur Kostensenkung geleistet wird.
Weitere Details sind in unserem Blog-Beitrag Vorschlag für einheitliche Ladekabel auf EU-Ebene enthalten.
F. Neuauflage des „Blue Guide“
Da bereits seit geraumer Zeit an einer Neuauflage des sog. Blue Guide, der als zentrale Handreichung bei der Anwendung und Auslegung der europäischen Produktvorschriften fungiert, gearbeitet wird (die derzeitige Auflage ist aus dem Jahr 2016), darf auf eine Veröffentlichung im Jahr 2022 gehofft werden. Für eine Verzögerung könnte indes die geplante EU-Produktsicherheitsverordnung sorgen. Ziel der Neuauflage ist es, bisher umstrittene Auffassungen und unklare Aussage in der Vorlauflage klarstellen und zu bereinigen, etwa mit Blick auf den Umgang mit Ersatzteilen und den Status von Software.
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